Liberalismus und Lebenschancen

Im Gespräch mit Karl-Heinz Hense
Nachricht08.05.2018Melanie Kögler
Karl Heinz Hense in Stuttgart

Im Rahmen einer Veranstaltung sprach der Autor und Publizist Dr. Karl-Heinz Hense in Stuttgart über den Freiheitsbegriff des Liberalismus. Hense war von 1984 bis 1992 Redaktionsleiter der Zeitschrift „liberal – Vierteljahreshefte für Politik und Kultur“ und später Direktor der Theodor-Heuss-Akademie und Leiter des Bereiches Politische Bildung und Begabtenförderung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

In seinem Vortrag erläuterte er vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Debatten, warum Freiheit und Verantwortung unbedingt zusammengehören und legte anhand der Ideen von Immanuel Kant, Karl Popper und Ralf Dahrendorf dar, was mit „Lebenschancen“ in einer Gesellschaft eigentlich gemeint ist und welche Aufgabe liberale Politik dabei hat.

Wir haben mit ihm im Rahmen der Veranstaltung über Ralf Dahrendorf, den Begriff der „Lebenschancen“ und die Bezüge zur aktuellen Zeit gesprochen.

 

Herr Dr. Hense, wie war Ralf Dahrendorf als Person, als Mensch und als Chef?

Er war sehr beeindruckend – er war eine sehr beeindruckende Persönlichkeit mit einem unglaublich hohen Intellekt, der Dinge viel schneller erfasste, als man es üblicherweise in der Praxis erlebt. Er konnte beispielsweise ein Manuskript rasch durchblättern und nur über die Seiten drüberschauen und wusste am Ende genau, was drin stand. Ich habe mich immer gewundert, wie er das gemacht hat. Aber er war auch nicht unproblematisch: Wenn ihm irgendetwas nicht gefiel oder wenn er der Meinung war, er sei in irgendeinem Zusammenhang nicht hinreichend gewürdigt worden, dann konnte er das sehr deutlich zum Ausdruck bringen. Ich habe das häufig leidvoll erlebt, wenn ich irgendwelche Manuskripte als Redaktionsleiter von liberal zurückschicken musste, die ich eigentlich selber ganz gut fand, wo er aber selber sagte „Das ist ein Nullum, Herr Hense, das ist ein Nullum“. Insofern war er auch durchaus manchmal etwas unleidlich.

 

Was meint Dahrendorf mit dem Begriff „Lebenschancen“?

Den Begriff „Lebenschancen“ hat er von Max Weber übernommen und er hat ihn vor allen Dingen verwandt als Alternative zu der sogenannten positiven Freiheit. Seine Position ist die, dass er sagt, dass die Abwesenheit von willkürlichem Zwang zwar eine notwendige Voraussetzung von Freiheit ist, aber keine hinreichende. Hinreichend wird diese Voraussetzung erst dadurch, dass wir den Menschen Lebenschancen bieten. Diese Lebenschancen existieren in zweierlei Hinsicht oder bestehen aus zwei Komponenten: auf der einen Seite sind das die Optionen, also die Wahlmöglichkeiten, die Menschen in einer Gesellschaft haben, zum anderen sind es die Ligaturen – die Bindungen, die Werthaltungen – die wir zusammen mit anderen in unserem täglichen Leben eingehen und die zur pluralistischen Gesellschaft führen. Erst dieses beides zusammen ist dann eine hinreichende Voraussetzung für Freiheit.

Was kann uns Dahrendorfs Verständnis von Liberalismus heute sagen?

Da kann ich nur sehr persönlich darauf antworten. Er hatte ja auch durchaus eine soziale Philosophie. Dahrendorf war nicht nur ein liberaler Theoretiker, sagen wir mal vom Schlage eines Friedrich August von Hayek, obwohl er durchaus auch marktwirtschaftliche Vorstellungen in seinem Programm dargestellt hat. Aber er hatte eben auch die Notwendigkeit sozialer Anrechte bis hin zu einem garantierten Mindesteinkommen in seinem Programm- was viele heute gar nicht mehr wissen. Ich denke, wenn die liberale Politik sich darauf wieder stärker besinnen würde, dass es nicht nur um Wachstum geht, sondern eben auch um soziale Anrechte, dann könnte man sich auf Dahrendorf berufen.