"Soziale Reformen und innovative Arbeitskultur sind Humus für technologische Innovation"

Thomas Sattelberger im Interview über die Zukunft der Arbeitswelt
Blog22.08.2018Melanie Kögler
Podiumsdiskussion
Tobias Ködel, Head of Leadership 2020 bei der Daimler AG, und Thomas Sattelberger, innovationspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, diskutierten in Stuttgart mit dem Start-Up-Experten Johannes Ellenberg über die Arbeitswelt der ZukunftReinhold-Maier-Stiftung

Global, flexibel, digital – die digitale Revolution verändert nicht nur ganze Industrien, sondern auch die Art des Arbeitens selbst. Alte Produktionsweisen, Wertschöpfungsketten und Hierarchien lösen sich auf. Neue Formen der Organisation der Arbeit entstehen. Homeoffice, Crowdworking, Telearbeit und Co-working sind Vorboten einer sich ändernden Arbeitskultur. Beschäftigte sind teilweise selbst Treiber des Wandels: Flexiblere Arbeitszeitmodelle, flachere Hierarchien und neue Formen der Kommunikation können die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern, kreative Ideen hervorbringen und Entfaltungsmöglichkeiten für Mitarbeiter ermöglichen.

In Stuttgart diskutierten kürzlich der innovationspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion und ehemalige Telekom-Personalvorstand, Thomas Sattelberger und Tobias Ködel, Head of Leadership 2020 bei der Daimler AG, über die Zukunft der Arbeitswelt.

Die Daimler AG hat mit Leadership 2020 die bisher größte konzernweite Veränderungsinitiative gestartet und hinterfragt dabei in Projektgruppen unter Einbeziehung der Mitarbeiter zahlreiche System und Prozesse. Im Zentrum stehen dabei unter anderem eine neue Führungskultur und das Ausschöpfen der Potentiale, die durch die Digitalisierung und die Nutzung digitaler Technologien entstehen.

Im Interview haben wir mit Thomas Sattelberger über die Auswirkungen der Digitalisierung auf neue Formen der Arbeit gesprochen.

Herr Sattelberger, die digitale Revolution hat ohne Zweifel große Auswirkungen auf ganze Industrien und andere Arbeitsbereiche. Wie können wir uns Arbeit 4.0 und die Zukunft des Arbeitens vorstellen?

Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und auf die Arbeitswelt sind ein Blick in die Kristallkugel. Ich glaube, man kann zumindest von vier Zwiebelschalen neuer Formen von Arbeit sprechen. Den Zwiebelkern stellt die Frage dar, wann, wo, mit wem und wie jemand arbeitet, was durch die Arbeit mit orts-und zeitunabhängigen digitalen Medien zunehmend auch in die Souveränität des arbeitenden Menschen übergehen kann, im Sinne von  Vertrauensarbeitszeit und –ort. Die zweite Zwiebelschale digitaler Arbeit ist, dass es zunehmend sogenannte Clickworker gibt, also Menschen, die sich mit digitalen Medien auf digitalen Plattformen für Aufträge z.B. Recherchearbeiten oder Designaufgaben bewerben oder geworben werden. Zum dritten die sogenannte Plattformökonomie,  in der  - wie beispielsweise bei Amazon Fresh oder bei Uber - auf digitalen Plattformen gesteuert und dann der Service oder das Produkt „in der Realwirtschaft“ ausgeliefert wird. Die vierte Dimension ist die Frage, inwiefern Roboter und Automaten Arbeitsplätze ersetzen und ob neue geschaffen werden. Das sind die vier großen Themen, die in ihrem Umfang und ihrer Intensität offen anstehen. Nur bei einem sind sich die Wissenschaftler einig: es wird für einige Millionen Menschen in diesem Land einen gravierenden Skill Shift geben, also eine Re-Qualifizierung in erweiterte oder gar in neue Jobs hinein. Das wird eine Aufgabe sein, die das Bildungssystem massiv fordern wird.

Was bedeutet die Digitalisierung für bisherige Führungs- und Arbeitskonzepte? Wo müssen Unternehmen umdenken?

In den nächsten Jahren wird das Thema Digitalisierung überwiegend dazu führen, dass man im Bereich der Wissens- und Kreativarbeit Konzepte der Arbeitsort- und Arbeitszeitsouveränität einfordern bzw.  erleben wird. Dies wird natürlich auch dazu führen, dass sogenannte Vorgesetzte oder Chefs auf Distanz führen müssen, da Mitarbeiter dann immer weniger direkt und unmittelbar verfügbar sind. Die Präsenzkultur schwindet. Es wird mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch dazu kommen, dass es aufgrund des hohen Werts und der großen Attraktivität digitaler Arbeit ein Anbietermarkt wird, in dem Talente die dominante Rolle spielen werden. Führung wird dadurch deutlich mehr ein Thema von Führung auf Augenhöhe sein.

Wo sollte die Politik eingreifen und neue Rahmenbedingungen schaffen um Unternehmen und Mitarbeitern zukunftsfähiges Arbeiten zu ermöglichen?

Das sind verschiedene Themenfelder – zum einen hat es mit der Frage der Reformierung des alten Arbeitszeitgesetzes zu tun, dass wir eher über Wochen- oder gar Monatsarbeitszeit sprechen und über Kontingente an Arbeit, die individuell zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbart werden. Zweitens wird es eine Konsequenz geben müssen für Fragen der Ruhezeiten: gerade in der digitalen und Kreativarbeit ist das Festlegen von 11-stündigen Ruhezeiten natürlich nicht angebracht. Das gilt für die Rewe-Kassiererin oder den Fließband-Arbeiter bei Ford ganz anders, aber für die Wissens- und Kreativarbeit ist das ein wichtiges Thema. Zum dritten muss natürlich die Arbeitsstättenverordnung auch auf das digitale und mobile Arbeiten ausgerichtet sein bzw. diese nicht beeinträchtigen. Da wird sehr viel mehr Wert gelegt werden müssen auf das Thema Selbst-Achtsamkeit und eigene Grenzziehungs-Kompetenz der betroffenen arbeitenden Menschen, der Arbeitsminister wird weniger „Fremd-Schützer“ benötigen. Arbeitsschutz in der Digitalarbeit wird eine Frage der Selbstverantwortung und weniger eine Aufgabe von Kontrollagenturen. Zu guter Letzt: digitale Arbeit lebt ganz wesentlich von Solo-Selbstständigen, denn die sind oft die Innovationstreiber in antiquierteren Unternehmenskulturen. Das heißt, wir brauchen eine Reform der Regelwerke zur Scheinselbständigkeit. Jemand, der über 65000 Euro verdient, braucht Freiheitsrechte, keine Schutzrechte.

Durch die Digitalisierung werden Prozesse automatisiert und in der Folge ändern sich auch Jobprofile. Was bedeutet das für die Qualifizierung von Mitarbeitern und wie können diese ihren Platz in der sich verändernden Arbeitswelt finden und behaupten?

Das allerwichtigste ist, dass man keine Furcht vor der Zukunft hat, denn Furcht ist nicht nur ein schlechter Ratgeber, sondern Furcht ist auch eine Hemmblockade gegen das Verlernen von Altem und für das Lernen von Neuem. Es wird ganz wichtig sein, dass Menschen eine Chance haben, die positiven Potentiale der Digitalisierung zu erleben und zu verstehen. Die Verantwortung für das Lernen wird stärker auf den Einzelnen übergehen, denn er ist schließlich der Unternehmer seiner Talente. Im Markt wird das zur Konsequenz haben, dass sicherlich der Bedarf nach Weiterbildungsberatung gravierend steigen wird. Das dritte große Thema ist: auch mittelständische Unternehmen werden nicht darum herumkommen, deutlich mehr in die Qualifizierung ihrer Mitarbeiter zu investieren. Die Entwicklung digitaler Kompetenz auch im Bereich der Industriearbeit oder der Servicearbeit oder der ungelernten Arbeit ist ein großes Thema. Last but not least: der Weiterbildungsbildungsmarkt muss noch einmal in einer anderen Qualität wachsen, sowohl online als auch offline. Ich halte nichts von rigiden Zertifizierungsprozessen als Voraussetzung weiterer Entwicklung, sondern wir brauchen einen offenen, dynamischen Weiterbildungsmarkt mit privaten Anbietern, mit betrieblicher Weiterbildung, mit wissenschaftlicher Weiterbildung durch die Hochschulen und auch noch mit Weiterbildung durch die Agentur für Arbeit.

Wie wirken sich neue Arbeitsweisen und –formen auf das Innovationspotential von Unternehmen, aber auch von Mitarbeitern aus?

Ich bin da relativ simpel gestrickt: soziale Reformen und soziale Innovation oder innovative Arbeitskultur sind Humus für technologische Innovation. Technologische Innovation erzwingt andersherum geradezu neue soziale Arbeitswelten. Soziale und technische Innovationen sind Zwillinge.

Reinhold-Maier-Stiftung

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